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Vorwort

Roman Grabner

Ali Zare. Unter der Oberfläche

Ali Zare ist ein junger iranischer Künstler, der bereits in seinem Heimatland Malerei studiert hat und sein Studium seit 2016 an der Akademie der bildenden Künste in Wien fortsetzt. Dies ist insofern von Bedeutung, da in seiner Biografie nicht nur zwei unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Kontexte aufeinanderprallen, sondern er in seiner Ausbildung auch mit unterschiedlichen Bild-Traditionen konfrontiert ist, die beide von der übermächtigen, digitalen Bilderflut der Gegenwart überlagert werden. Wie positioniert sich ein junger Maler also in einer Welt, in der sich die Rolle des Bildes grundlegend gewandelt hat? Der Künstler kann in dieser Situation frei entscheiden, in welches Verhältnis er sich mit seiner Kunst zur zeitgenössischen Bildwelt, zu den anderen künstlerischen Medien und zur Tradition der Malerei begibt. Als Iraner in Österreich ist er aufgrund seiner Herkunft jedoch mit der Situation konfrontiert, sich positionieren zu müssen, gesellschaftspolitisch Stellung zu beziehen. Die Wahl seiner Motive und die Technik seiner Malerei stehen daher unter doppelter Beobachtung und werden mit kritischerem Auge bemessen, als dies wohl bei seinen Künstlerkolleg*innen der Fall ist.

Ali Zare malt Menschen, junge Menschen, junge Menschen aus dem Iran, die aus der soziopolitischen Gemengelage herausragen, sich gegen die kulturellen und religiösen Konventionen auflehnen und sich nach einem anderen, besseren Leben sehnen. Als Inspiration dienen dem Künstler Bilder der Protesten im Iran, die er der kurzlebigen medialen Bilderflut enthebt, in dem er sie einerseits in die zeitlose Sphäre der Kunst überträgt und andererseits durch eigene Vorstellungen und Zuschreibungen verfremdet. Immer wieder haben im Iran junge Menschen gegen das autoritäre Mullah-Regime aufbegehrt. Die letzte massive Welle an Protesten wurde durch den Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 ausgelöst. Die junge Frau wurde von der Sittenpolizei festgenommen, weil ihr Kopftuch angeblich nicht richtig saß und starb in Polizeigewahrsam durch Polizeigewalt.

Die Wahl seiner Motive scheint einem aufgeklärten Blick auf die iranische Gesellschaft zu entspringen, auch wenn sich der politische Kontext seiner Bilder nicht auf den ersten Blick erschließt. Wenn man die Werke von Zare betrachtet, dann fehlt den dargestellten Figuren oftmals jene spezifische Verortung im Bildraum, die einen Kontext evozieren würde. Der Künstler deutet zwar mitunter mit wenigen malerischen Pinselstrichen eine Standfläche an, die seinen Protagonist*innen Halt gibt, doch scheint sich diese vermeintliche Sicherheit in den neuesten Gemälden aufzulösen. Der so genannte Hintergrund, der Bildraum, bleibt weiß und damit perspektivisch unbestimmt, indifferent, ein Raum-Zeit-Kontinuum, das dem Betrachter keinen wirklichen Anhaltspunkt gibt und die Figuren nicht nur teils fallen und teils stürzen lässt, sondern sie auch der Zeit enthebt. Es sind die Haltungen der Figuren, die in den Vordergrund treten, und da- mit ihre Gesten der Reflexion, des Zweifels, der Vorsicht, der Empathie, der Flucht oder des Widerstands, die universal und zeitlos sind und als Konstanten in der Geschichte der Menschheit angenommen werden können. Der leere Bildraum bietet Zare die Möglichkeit, nicht nur auf jene elementaren menschlichen Ausdrucksformen zu fokussieren, sondern die Bilder auch ihrer tagespolitischen Aktualität zu entheben und sie somit von ihrem iranischen Ursprung zu lösen, denn zu klare politische Stellungnahmen können auch im Ausland zu Konsequenzen führen, lebt doch seine Familie noch immer in der Heimat.

Zentral für seine Arbeiten ist jedoch seine spezifische, malerische Technik. Zare trägt die Ölfarbe in vielen kleinen Setzungen auf den glatten Bildträger auf, schiebt die Farbe mit einer Spachtel beiseite, wischt sie weg, kratzt sie aus und geht erneut darüber. Die jeweilige Figur wir aus zahllosen dynamischen Spuren und Hieben zusammengesetzt und offenbart einen intensiven Dialog des Künstlers mit seinem Werk im Prozess der Entstehung. Die gestischen Setzungen brechen jegliche Kontur auf und züngeln wie kleine Flammen über die Körpergrenzen in den Umraum. Es scheint, als würde er mit jedem Bildnis versuchen, unter die Haut zu blicken, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Protagonist*innen hineinzuversetzen und sie mit seinen eigenen Empfindungen und Überzeugungen in Resonanz zu bringen. In diesem Prozess des sensiblen Einfühlens und der reflektierten Innenschau hat er deren Gefährdetheit erkannt und seine eigene Verletzlichkeit nicht ignoriert, wodurch Bildnisse entstehen, die uns berühren, verstören, irritieren, uns jedenfalls nicht gleichgültig lassen. Für Jean Luc Nancy bedeutet körperliche Existenz in einer Weise ausgesetzt zu sein, in der ein sogenanntes Innerstes nicht mehr nach Außen abgegrenzt oder ge- schützt ist. Das ihn Umgebende wirkt so unmittelbar auf ihn und geht ihm derart nahe, dass er gleichsam aus sich herausversetzt wird. Er gerät in Ekstase, in einen Zustand des wortwörtlichen „Außer-sich-Seins“.

Für Nancy ist der Körper daher keine geschlossene Entität mehr, sondern „das Offene“. Die Welt der Körper ist die Welt des Ausgesetztseins und Nancy setzt den Begriff der „Ex-position“ mit der Wortneu- schöpfung „Ex-peausition“ (frz. Peau: „Haut“) überein, denkt also das Exponiertsein, das Ausgesetztsein des Körpers mit seiner „Enthäutung“ zusammen. Es ist daher keine bloße technische Raffinesse, dass Zare seine Körper offen und aufgerissen malt und man den Eindruck gewinnt, als würde man unter die Haut blicken und der Unruhe und der Bewegung der Seele gewahr werden. Inhalt und Umsetzung fallen in einander und zeitigen Porträts einer Generation, die vielleicht eines Tages als jene des Aufbruchs und der Veränderung in die Geschichte eingehen wird.

Für Nancy weist jedes Bild „etwas vom ‚Porträt’ auf, weniger, weil es die Züge einer Person reproduziert, sondern vielmehr weil es zieht (das trait des Porträts leitet sich etymologisch von lateinisch trahere, ,ziehen’ ab) indem es etwas, eine Intimität, eine Kraft hervorzieht.“ Das Bild wirft mir eine Intimität ins Gesicht, die mich im Intimen trifft. Die „nackten“ Körper der Anderen sprechen uns an. Es ist eine Ansprache, die wir nicht wollen und von der wir im Sinne Emmanuel Lévinas’ als Geisel genommen werden und mit der wie uns auseinandersetzen müssen. Es ist die Frage der Verantwortung, die uns jene Bilder des Anderen ins Gesicht schleudern. Bin ich nur mir selbst oder meiner Familie gegenüber verantwortlich oder gibt es noch andere, für die ich Verantwortung trage? Und wie definiere ich die Reichweite und Grenzen meiner Verantwortung? Können Herkunft, Sprache, Religion und Kultur als Grundlagen dienen und welche Verantwortung habe ich dann denen gegenüber, die nicht Teil dieser konstruierten Gemeinschaft sind?

Zare fordert mit seinen Werken ein Bewusstsein ein, wach zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich. Diese gemeinsame Bedingung des Gefährdetseins könnte eine wechselseitige Verantwortung herbeiführen und zu wechselseitiger Anerkennung und Bewahrung führen, doch oftmals sehen wir uns gerade durch unsere eigene Verletzlichkeit von den anderen bedroht und dieses Gefühl führt zu Abwehrreaktionen unterschiedlicher Ausprägung.

Die Kunst kann gesellschaftspolitisch wahrscheinlich nicht viel bewegen oder verändern, aber wie Jaques Ranciere einmal festgestellt hat: „Kunst ist weder politisch aufgrund der Botschaften, die sie überbringt, noch aufgrund der Art und Weise, wie sie soziale Strukturen, politische Kräfte oder soziale, ethnische oder sexuelle Identitäten darstellt. Kunst ist in erster Linie dadurch politisch, dass sie ein raum-zeitliches Sensorium schafft, durch das bestimmte Weisen des Zusammen- oder Getrenntseins, des Innen- oder Außen-, Gegenüber- oder In-der-Mitte-Seins festgelegt werden.“ Es geht darum wie Kunst einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt, wie sie den Menschen in diesem Gewebe verankert und welche Bilder sie dafür findet, denn „Kunst ist eine spezifische Form der Sichtbarkeit, eine Veränderung der Beziehungen zwischen den Formen des Sinnlichen und den Regimen der Bedeutungszuweisung [...]“.

Ali Zares Kunst ist daher politisch zu nennen, aber nicht weil er aus dem Iran kommt und sich die iranische Gesellschaft gerade im Umbruch befindet, sondern weil er über Formen des Zusammenlebens, die Bedingungen von Gemeinschaft, die Gefährdetheit des Individuums, die Möglichkeiten der Versöhnung und die Verantwortung des Einzelnen nachdenkt und Bilder dafür sucht, die sich auf den ersten Blick erschließen, aber nicht erschöpfen, die trotz ihrer verführerischen Escheinung unter die Oberfläche blicken und trotz ihrer Bestimmtheit eine berückende Sanftmut in sich tragen.

Roman Grabner, 2022

Roman Grabner ist Leiter des BRUSEUM in der Neuen Galerie / Universalmuseum Joanneum, Graz

 

 

 

 

1 Jean-Luc Nancy, Das Bild – Das Distinkte, in: Ders., Am Grunde der Bilder. Zürich [u.a.] 2006, S. 7-30, 13.

2 Ebda., S. 14.

3 Emmanuel Lévinas, Paix et Proximité. In: Ders., Altérité et Transcendance. Paris 1995, S. 138-150.

4 Vgl. Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt/ Main 2005, S. 160.

5 Jaques Rancière, Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. In: Jaques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin 2008, S. 75-99, 77.
6 Ebda.

© für die Texte beim Künstler Ali Zare und Roman Grabner

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